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21. März 2019

Von bleicher Sorge hart bedrängt: Über die Lage der bildenden Künstler*innen im Alter

Altersarmut wird zunehmend zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion und betrifft fast alle gesellschaftlichen Schichten. Dabei sind gerade Künstler*innen an dieser späten Form des Präkariats exponiert. Existierende Förderprogramme in der Bildenden Kunst konzentrieren sich meisten auf dem Karriereanfang; strukturelle Maßnahmen für ältere Produzent*innen, die nicht am Kunstmarkt teilnehmen, sind nicht vorgesehen. Durch ein Symposium im Stadtmuseum Düsseldorf Anfang Februar 2019 machte die AG „Künstlerschaft gegen Altersarmut“ vom Rat der Künste in Zusammenarbeit mit dem LaB K und dem Verein der Düsseldorfer Künstler 1844 auf das Phänomen aufmerksam.

Hier geht es zur kurzen Filmdoku über das Symposium. Und weiter unten zum Vortrag von Hanne Schweitzer, aus dem Büro gegen Altersdiskriminisierung.

„Oft trifft man wen, der Bilder malt, viiiel seltener wen, der sie bezahlt.“ (Wilhelm Busch). Dass die meisten Künstler*innen zur Sicherung von Existenz und Autonomie auf andere Einnahmequellen als ihrer Produktion angewiesen sind, ist längst bekannt. Dazu gehören Jobs, Stipendien, Lehrtätigkeiten, private Zuwendungen, Unterstützung durch Ämter oder Auszahlungen der Verwertungsgesellschaft Bild-Kunst. Wie sieht es genauer mit ihren Einkommen aus? 2016 veröffentlichte der Bundesverband bildender Künstler seine sechste qualitative Umfrage zur finanziellen Situation der Künstlerschaft (Rücklauf: 1.300 Antworten). Daraus geht hervor, dass 12,5 Prozent im Jahr 2015 keinen einzigen Cent mit ihrer künstlerischen Arbeit verdient haben. Und von denen, die Einnahmen hatten, setzen 81,1 Prozent nicht mehr als 20.000 Euro um. Dazu muss man wissen: Das Jahresbruttoeinkommen einer Einzelhandelskauffrau in einem tarifungebundenen Betrieb liegt bei 28.000 Euro. Also 8.000 Euro mehr.

 

Was sagt die Künstlersozialkasse dazu? Interessanterweise führt sie die bildende Künstlerschaft mit den Designern in einem Bereich zusammen. Dagegen ist ja erstmal nichts einzuwenden. Irgendwo müssen die freischaffenden Designer, die früher meist fest angestellt gearbeitet haben, ja renten- und krankenversichert sein. Dass aber nun in sämtliche Tabellen, die von der KSK mit der Überschrift „Bildende Kunst“ veröffentlicht werden, auch die Daten der Designer*innen einfließen, ist doch irreführend. Diese Suggestion von Wirklichkeitsvermittlung sollte man im Kopf haben, wenn man die Tabelle der KSK betrachtet.

Wie in der Tabelle ersichtlich, gibt es kein Jahreseinkommen unter 10.000 Euro; am besten verdienen die 40 – 50Jährigen. Pushen also die Designer*innen die Einkommen der Künstlerschaft? Oder senken die Künstler*innen den Schnitt? Die Frage kann ich zwar stellen, aber ich kann sie nicht beantworten. Ich habe die KSK deshalb schriftlich gebeten, die Daten von Künstlern und Designern doch in Zukunft getrennt auszuweisen. Damit bin ich beim europäischen Zentrum für Wirtschaftsförderung angelangt. Das Institut schreibt für die Bundesregierung jedes Jahr einen Bericht zur „Kultur- und Kreativwirtschaft“[1], ein relativ neuer Wirtschaftszweig, der aus 12 verschiedenen Absatzmärkten zusammengesetzt wurde.

2017 haben alle 12 Märkte zusammen 158,6 Milliarden Euro umgesetzt. Er hat aber trotzdem Mit einen Umsatz von 2,1 Milliarden Euro, ist der Kunstmarkt der Kleinste. An diesem merkantilen Erfolg waren vier Teilmärkte beteiligt. Die selbständigen bildenden Künstler*innen, die Galerien, die Museumsshops und die Antiquitätenhändler. Der größte Batzen der Einnahmen kam von den Künstler*innen. Sie haben mit dem Verkauf ihrer Werke, die ja Wirtschaftsgüter sind, 846 Millionen Euro umgesetzt. Daran beteiligt waren 33.000 Künstler und Künstlerinnen. (25.600 pro Künstler). Von denen gelten aber laut Bericht mehr als zwei Drittel (24.000) als Miniselbständige. Und Miniselbständige, das sind bildende Künstler*innen mit einem Jahreseinkommen von weniger als 17.500 Euro.

Den zweitgrößten Batzen haben die Kunstverwerter beigesteuert. 1.300 Galerien haben 656 Millionen Euro umgesetzt. Dividiert man diese beiden Zahlen, ergibt das pro Kunstverwerter einen Durchschnitt von mehr als einer halben Million Euro (504.600Euro). Die Künstler*innen waren schon immer die Reichtumsbeschaffer des Kunsthandels.

Die aktuellsten Zahlen zur finanziellen Situation der Künstlerschaft stammen aus der 3. Umfrage, die das Berliner Institut für Strategieentwicklung[1]. Doch selbst in der Stadt mit der bundesweit besten Förderstruktur gilt für die Künstler*innen gilt: Von bleichen Sorgen hart bedrängt. Man schätzt, dass in Berlin 8.000 bildende Künstler*innen leben. Von denen haben sich 1.745 an der Umfrage beteiligt. Die Altersspanne reichte von 19 bis 89 Jahren. Die meisten waren aber unter 50. Im Schnitt verdienen Berliner Künstler*innen ca. 9.600 Euro im Jahr mit ihrer Produktion (bei den Künstlerinnen sind es weniger als 5.000 Euro). Für 80% ist die künstlerische Arbeit ein Verlustgeschäft, das mit anderen Einnahmen finanziert werden muss. Nur jede zehnte Künstler*in bezieht ihr gesamtes Jahreseinkommen aus der künstlerischen Arbeit, 13% der Männer und 8% der Frauen. Nur 9,5 Prozent geben an, ihren Lebensunterhalt jetzt oder in Zukunft mit den Einnahmen aus der künstlerischen Arbeit decken zu können. Hat das jahrhundertelange Reden von der „brotlosen Kunst“ die Künstler konditioniert? Brauchen sie Schulungen, um Blockaden abzubauen und angemessene Bezahlung durchzusetzen? Haben sich an der Berliner Umfrage keine gut verdienenden Künstler*innen beteiligt? Wieso geben dann aber 10 Prozent an, eine private Altersvorsorge zu bezahlen?

Drei Schlüsse lassen sich aus dem Bisherigen aber ziehen:

  1. Es gibt nur wenige Künstler*innen mit gesichertem Einkommen.
  2. Künstler*innen mit einer akademischen Ausbildung reichen an die Einkommen anderer selbstständiger Akademiker*innen meist nur im Traum heran. Ingenieur*innen, Ärzt*innen oder Anwälte berechnen ihre Arbeit anhand von Honorarordnungen und die meisten verdienen zwischen auf 50- bis 100.000 Euro im Jahr.
  3. Das Gros der bildenden Künstlerschaft verdient weniger, als der rentenversicherte Durchschnittsmensch. Aber dessen Bruttoeinkommen von 35.000 Euro[2] im Jahr reicht ja auch nicht, um gut vom eigenen Fett zehren zu können.

Damit bin ich bei den Renten. Hierzulande gilt ja die Faustregel: Je weniger Einkommen, je weniger Rente. Heinrich Heine hat das so auf den Punkt gebracht: „Die Armut hat den großen Fehler, dass sie da, wo sie sich einmal hingesetzt hat, zu lange sitzen bleibt. Man kann sie nur schwer loswerden“.[3] In Kanada ist das anders. Das staatliche Alterssicherungsprogramm Old Age Security Program (OAS)[4] ist nicht davon abhängig, ob man früher gearbeitet hat. Die Höhe richtet sich nach der Anzahl der Jahre, die man in Kanada gelebt hat. Der Höchstbetrag liegt bei 600 CAD, und die erhält, wer seit 40 Jahren im Land ist. Wer damit nicht auskommt, kann eine Einkommensergänzung (Guaranteed Income Supplement) beantragen. Die ist auch nicht an frühere Berufstätigkeit gekoppelt. Hier liegt der Höchstsatz bei 500 CAD. Macht zusammen 1.100 CAD. Da schlucken hiesige Rentner*innen.

Was sagt nun die Künstlersozialkasse zum Thema Alterseinkünfte? Eine entsprechende Anfrage wird kurz und knapp beantwortet mit den Worten: „Da wir nur die Einzugsstelle sind, können wir darüber keine Auskünfte erteilen.“ Fehlanzeige genauso bei der Deutschen Rentenversicherung: „Die angefragte Statistik wird von uns leider nicht geführt“, heißt es. Die KSK gibt es seit 1983. Wer also 1983 angefangen hat, dort Beiträge für seine Rente einzuzahlen, kommt bis heute nur auf 36 Jahre. Wenn das Rentenalter aber jetzt schon vor der Tür steht, was dann? Dann haben die älteren Künstler*innen, wie die SPD-Vorsitzende Nahles bei anderer Gelegenheit sagte: „die Arschkarte gezogen“[5].

Wieso? Auf die Frage, ob man Beiträge nachzahlen oder zusätzlich einzahlen kann, um auf 45 Jahre zu kommen, sagt die Rentenversicherung: „Uns sind keine Möglichkeiten bekannt, die speziell für Künstler*innen die Möglichkeit der Nachzahlung von Beiträgen eröffnen.“ Wenn man wollte, ließe sich das schnell ändern und es wäre ein nettes kleines Betätigungsfeld für ältere, kunstaffine Bundespolitiker. Überhaupt gehen ja Politik und Kultur gut zusammen in der letzten Zeit. Für Michele Müntefering wurde eigens die Stelle einer Staatssekretärin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt geschaffen. Und mit Ausnahme von AFD und FDP finden sich in den Programmen der Parteien zur letzten Bundestagswahl immerhin ein, zwei Sätze zur ökonomischen Situation der Künstlerschaft.

„Wir stärken die Lebens- und Arbeitsbedingungen für künstlerisches Schaffen“, sagt die CDU. Die SPD macht sich für Mindestvergütungen und Ausstellungsvergütungen stark, die Linken für Mindesthonorare und Ausstellungshonorare, die Grünen sind für Mindestlöhne und Honoraruntergrenzen. Der Vorsitzende der CDU-Senioren-Union, Professor Dr. Wulff, führte schon 2014 zum Thema folgendes aus: „Der arme Dachstuben-Poet von Carl Spitzweg, das ist heute der prekäre Ich-Unternehmer in der Kulturbranche, die wie kaum eine andere von Altersarmut betroffen ist. “ Altersarmut: In den Plenarprotokollen des Deutschen Bundestags muss man bis 1984 zurückgehen, bevor das Wort erstmals auftaucht. Im veröffentlichten Sprachgebrauch hat es seitdem eine beachtliche Karriere gemacht. Wie Plastik eignet es sich nämlich für jeden Zweck und jeden Anlass. Es ist so herrlich neutral und enthält nicht den kleinsten Hinweis auf die Verursacher der Armut und auf die Folgen, die es hat, wenn sich Leute, die mehr als 45 Jahre gearbeitet haben, den nötigsten Lebensunterhalt nicht ohne Hilfe beschaffen können.

Von den Künstler*innen, die sich an der Umfrage des Bundesverbands BBK 2016[6] beteiligt haben, war ein Drittel im Rentenalter. Das sind ca. 430 Personen. Die Auskünfte, die sie über die Höhe ihrer Renten gegeben haben, führen zu diesen nicht repräsentativen Durchschnittswerten: Die Hälfte der Frauen (51,1 %) hat Renteneinkommen von bis zu 800 Euro. Bei den Männern sind es 10 Prozent weniger. Bei den Männern stammten die Renten zu 61 Prozent aus künstlerischer Arbeit, bei den Frauen waren es nur 48 Prozent.

Die schon erwähnte Umfrage des Berliner Instituts für Strategieentwicklung 2018 hat, auch weil das Setting ganz anders war, zu anderen Ergebnissen geführt. Demnach erwartet fast ein Viertel (23%) der Befragten im Alter zusätzliche Einnahmen aus Erbe, Vermietung oder Kapitalerträgen. Wie kann es dann aber sein, dass 90% der Umfrageteilnehmer*innen sagen, dass sie später nicht von ihrer Rente leben können? Die durchschnittliche Rentenerwartung der Künstlerschaft liegt bei 357 Euro, wobei über die Hälfte aller Produzenten weniger als 280 Euro erwartet. Ein alarmierender Wert. Alle anderen gehen von einer Rentenerwartung von ca. 357 Euro aus. Zum Vergleich: Der Hartz IV – Satz liegt bei 424 Euro, die Grundsicherung bei 416 Euro. Und 7.5 Millionen Minijobber bekommen 450 Euro.

Zu dieser faktischen Unterbezahlung kommt, noch hinzu dass älteren Künstler*innen der Zugang zu Stipendien, Studienaufenthalte oder Preisen durch Altersgrenzen verwehrt ist. Das Büro gegen Altersdiskriminierung hat seit 2006 solche Altersgrenzen dokumentiert. So durfte schon damals nicht älter als 35 sein, wer für eine Bewerbung um den Ausstellungs- und Katalogförderpreis der Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung vorgeschlagen werden wollte. Andere Ausschreibungen richten sich an „Nachwuchskünstler*innen“, „junge Absolvent*innen“ oder an solche, die „junge Kunst“ machen, was auch immer das sein mag. Mal darf man maximal 40 sein, mal 30. Nur über 50, das bitte nicht. Die Kölner Ausstellungsreihe „Update Cologne“, bei der Künstler*innen über 50 ausstellen, ist da eine rühmliche Ausnahme. Altersdiskriminierend  tun sich private wie öffentliche Stiftungen hervor, auch das Goetheinstitut, der DAAD, Landesministerien, der Landschaftsverband Rheinland, die Werkstadt Altena, der Landesverband Lippe, die Berliner Akademie der Künste und das deutsche Studienzentrum in Venedig.

Was also tun, bildende Künstler*innen? Selbstmitleid ist den meisten Kunstschaffenden fremd. Vielleicht ist das ja ein Grund dafür, dass Künstler*innen auch dann nicht aufmucken, wenn sie 30 Jahre auf der gleichen Matratze schlafen oder jeden Cent dreimal umdrehen müssen, bevor sie sich ein neues Objektiv leisten können. Wer kein Erbe im Rücken oder einen gut verdienenden Partner an der Seite hat, dem ist die Abwesenheit von Geld so vertraut, wie ein Leben ohne Rücklagen und Sterbeversicherung. Wie soll man aber im Alter eine vernünftige Brille oder die Tropfen für die Augen bezahlen, die die Kasse nicht übernimmt? Und wie macht man die Hängung, wenn auf der Leiter der Schwindel kommt? Was soll werden, wenn die Kündigung für die Wohnung oder das Atelier im Briefkasten liegt? Wer kümmert sich, wenn Pflege nötig wird?

Bildende Künstler*innen sind nicht einfach zu organisieren. Aber vielleicht ändert sich das gerade. Anfang Februar dieses Jahres haben sich zum Beispiel darstellende Künstler*innen in einem Kölner Theater zu einem internationalen Kongress getroffen. Themen waren ihre Arbeitsbedingungen und Honorare, aber auch der Druck, der von den Rechten z.B. auf die Spielplangestaltung ausgeübt wird. Bei den bildenden Künstler*innen bewegt sich auch etwas. Zum einen wird die Empörung über die Zensur von Ausstellungen lauter.[7] Zum anderen wurde letztes Jahr in Düsseldorf das Manifest gegen die Altersarmut veröffentlicht. Der Rat der Künste wurde etabliert. Diese Tagung wurde organisiert. Nun soll ein Fonds für notleidende Künstler gegründet werden. Gute Idee, nur mit der City Tax, also einer Sonderabgabe für die Hotelübernachtung, wie die Rheinische Post berichtet hat, funktioniert das nicht. Denn es sind nicht die Bürger*innen, die über die Verwendung von Steuern entscheiden. Staat, Stadt oder Land kann damit machen, was er will. Erfreulich ist aber auch, dass sowohl Privatleute als auch Vereine und Institutionen aus Düsseldorf die „Berliner Erklärung der Vielen“ gegen die ReNationalisierung der Kunst unterstützen.

Das ist, nach vielen Jahren des Dornröschenschlafs, schon eine ganz Menge. Und es bedeutet: Freischwebende Energien können gebündelt werden. Selbständige Künstler*innen, die sich jahrzehntelang als Einzelkämpfer auf einem gnadenlosen Markt behaupten müssen, können sich zusammentun, Überlegungen anstellen, Forderungen formulieren, Verbündete suchen. Die Konjunktur schwächelt. Das Säbelrasseln wird lauter. Der wirtschaftliche Druck auf die Einzelnen nimmt zu. Wir haben die Wahl: Entweder verhungert demnächst jeder allein in seiner Dachstube oder wir erinnern uns an Heinrich Heines erste Zeile aus seiner ersten Doktrin: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“

[1] http://www.ifse.de/artikel-und-studien/einzelansicht/article/studio-berlin-iii.html 2.2.2019
[2] Abgerufen am 6.2.2019
[3] Heinrich Heine Lutezia, 1. Buch. Gesamtausgabe, Reclam Leipzig
[4]
[5] Abgerufen am 3.2.2019
[6] Abgerufen am 29.1.2019
[7] Abgerufen am 3.2.2019

 

Hanne Schweitzer
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19. Februar 2019

Wem gehört die Geschichte?
Die Grenzen von Ethik und Ästhetik heute.

Nehmen wir eine Vase. Wir erhalten die Information, dass diese Vase fair produziert wurde, in Miniauflage, in einem mikrokreditfinanzierten Workshop für misshandelte Frauen. Ist die Vase dann schöner, als wenn wir die Information nicht bekommen hätten? Nein. Aber wir nehmen sie anders wahr, weil wir auf einmal schöner sind. Weil unsere Kaufentscheidung richtig war und gut und unterstützend. Damit sind wir geeigneter, die ‚gute‘ Vase als ‚gut‘ zu erkennen, weil wir selbst ‚besser‘ geworden sind.

Nehmen wir an, wir schreiben einen Roman. In dem Roman geht es um eine reale Person der deutschen Geschichte in den unrühmlichen Jahren der NS-Zeit. Bin ich schlechter, wenn ich diesen Roman schreibe? Als Liebesgeschichte? Mit erzählerischen Freiheiten? Oder bin ich schlechter, wenn ich den Roman schlecht schreibe? Also schlechter, als würde ich irgendeinen anderen historischen Stoff schlecht schreiben?


Takis Würger, Stella. Cover, München 2019. © Carl Hanser Verlag, München.

Diese Fragen stellt Johannes Franzen im aktuellen Merkur. Er bezieht sich damit auf Takis Würgers Roman „Stella“ (Abb. 1), in dem es um Stella Goldschlag geht, eine jüdische Gestapo-Kollaborateurin. Er hat dieses Buch mit Dokumenten gefüttert und reale Akten eingepflegt, Zeugnisse, die als letzte Äußerungen der Opfer gedeutet werden können. Franzen schreibt über ein Buch, das momentan wie kein zweites in den Feuilletons der Republik verrissen und zum „Symbol einer Branche (wird), die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint.“ (1)

Die Gründe, die er für den „Furor der Kritik“, der es sogar in die BILD-Zeitung geschafft hat, nennt, sind auf verschiedene Weise sehr aufschlussreich.

„Wer darf welche Geschichte wie erzählen?“

In dieser Frage kulminiert Franzen einige Kritikpunkte. Auch wenn die fiktionale Freiheit erst mal alles darf, muss sie sich doch – wenn sie sich wie dieser Roman historischer Realia bedient – auch nichtliterarischen Ansprüchen nach Angemessenheit und Vertreterschaft oder generell dem Umgang mit Quellen stellen. Franzen schreibt: „Literarische Texte stehen fast immer in einem engen dialogischen Verhältnis zu einer gegenwärtigen oder historischen Wirklichkeit“. Interessant wird dieser Wirklichkeitsbezug, wenn man die Medien wechselt. In der bildenden Kunst ist seit dem ‚Fall‘ der Malerin Dana Schutz, die in ihrem Gemälde „Open Casket“ Bezug zu einer Fotografie von Emmett Till herstellt, der Vorwurf der ‚cultural appropriation‘ eingeführt worden. Gemeint ist die Aneignung und Kommerzialisierung schwarzer und indigenen Kultur durch die oftmals weiße Dominanzkultur. Das können Dreadlocks bei weißen Models oder Bumerangs von Chanel sein – oder aber das Bild eines 14-jähriges Opfers rassistischer Gewalt. Gemalt von einer Weißen. Hat sich Takis Würger der ‚cultural appropriation‘ schuldig gemacht, hat er „Everything But The Burden“ (2) übernommen? Ist, weiter gefragt, ‚cultural appropriation‘ nur ein Hautfarbenphänomen? Und wenn nicht, darf man vom Holocaust als einer ‚Kultur‘ sprechen, die angeeignet wird?

Die Diskurse jedenfalls sind ähnlich. Die Künstlerin Hannah Black war die lauteste öffentliche Stimme gegen das Gemälde von Schutz. Sie wird mit den Worten zitiert:

„Jene nicht-schwarzen Künstler, denen aufrichtig daran gelegen ist, die schändliche Form weißer Gewalt hervorzuheben, sollten zuerst davon ablassen, schwarzen Schmerz als Rohmaterial zu benutzen. Das Thema gehört Schutz nicht. Weiße Redefreiheit und weiße Kunstfreiheit sind darauf gebaut, anderen diese Freiheiten zu verwehren; sie sind kein Naturrecht.“ (3)

Antonia Baum kritisiert in der ZEIT, dass Würger glaubt, sich „alles nehmen und darüber verfügen zu können“. Sie spricht von Aneignung und Verfügung, ganz ähnlich wie Hannah Black. Ist Würger als Nachgeborener also Teil einer ‚Dominanzkultur‘? Auf den ersten Seiten des Romans wird klar gemacht, dass Takis Würger einen Urgroßvater hat, der 1941 bei der Aktion T4 vergast wurde. Seine genealogische Betroffenheit ist somit vorausgesetzt. Er darf erzählen. Darf er aber SO erzählen?

Es gab die Debatte bei Lanzmann und Spielberg und ihren jeweiligen Holocaust-Filmen: Sprachebenen, Zugänge werden hier wie dort thematisiert. Wobei Bildkünste immer höheren Ansprüchen an ‚das Dokumentarische‘ genügen mussten als Wortkünste. Aber dazu später mehr. Wenn es um Kunst und Aneignung geht, ist es wichtig zu betonen, dass keine Kunst, aber ebenfalls keine Kultur autonom ist, auch wenn sie es gerne von sich behaupten: Autonomie ist das Reinheitsgebot, das nicht existiert. Kunstintern und Kunstextern lassen sich nicht trennen. Kulturen – so hat die Wissenschaft längst belegt – sind ebenfalls nichts, was sich eindeutig zuschreiben ließe. (4) Und würde man das wirklich wollen? Letztendlich wiederholt jeder Essentialismus von Kultur die Unterstellung, „schwarze Menschen würden einzig und allein aufgrund ihrer Hautfarbe bestimmte Eigenschaften miteinander teilen“, wie Jens Kastner in seinem Essay deutlich macht.

Aber wie wird denn nun erzählt?

Es ist der gleiche Realitätshiatus wie in der Fotografie: Weil sie als kulturelle und historische Praxis ‚Dagewesenes‘ abbildet, fällt es ihr schwerer als anderen Medien, sich von der Realität zu verabschieden. Dem Betrachter zu sagen: Es ist zwar ein Foto, aber glaubt ihm nicht! Als ‚Dagewesener‘ beglaubigt auch der Fotograf das Abgebildete und ist als Zeuge somit verbürgt. Anders als der Autor. Daher gibt es in der Reportagefotografie seit längerem den Diskurs, ob z.B. westliche Medien und Nachrichtenagenturen westliche Fotografen in den globalen Süden schicken sollten, oder ob man nicht verstärkt mit lokalen Fotografen zusammenarbeiten sollte und wenn ja, wie sie behandelt werden müssen. Man wendet sich gegen die „Ökonomie des Leidens“, Formen der kulturellen Aneignung, aber auch – und jetzt kommen wir zurück zur aktuellen Debatte – gegen „Storys, die sich verkaufen“ (5). Storytelling ist nämlich kein Exklusivmerkmal des SPIEGELS, sondern existiert auch als Anforderung in der Reportagefotografie.

Würger ist mit Class Relotius verglichen worden. Man weiß nicht genau, ob aufgrund seiner inhaltlichen oder stilistischen Merkmale. Allerdings ist beides kaum voneinander zu trennen. Obwohl sie unterschiedlichen Systemen angehören, schreiben sie knappe, parataktische Dialogprosa zu angenommen realen Inhalten, peitschen Lesetempi hoch und reduzieren Komplexität. Als Relotius aufflog, stand in der Stellungnahme des Spiegels, er habe es vermocht, „Gegenwart einmal auf ein lesbares Format“ (6) zu komprimieren. Takis Würger vermag das gleiche mit der Vergangenheit.

Die taz kritisiert, dass er das ‚Ungeheuerliche‘ seiner Geschichte als „einziges Wiedererkennen“ inszeniert. Das alles bekannt erscheint: „Die „Jatz“-Keller in Berlin, die Bombennächte, die zwielichtigen SS-Figuren, die armen Juden, die munteren Folterer, das alles hat man im Zweifel schon im Fernsehen gesehen.“ (7) Allerdings glaube ich nicht ausschließlich an die „Entlastungsfunktion“, die Dirk Knipphals dem Erkennen unterstellt. Es ist auch das Erschrecken der eigenen Teilhabe.

Denn: Es geht um Zeit. Takis Würger hat, wie oft betont wurde, „flott“ (8) geschrieben, „etwas zum Verschlingen“ (9). Ein Pageturner reflektiert nicht. Er treibt die Handlung voran, ist in ihr, und du auch, er schiebt dich vor ihr her, tritt nicht zurück. Er bietet dem Leser keine Möglichkeit, Distanz zu wahren, er vereinnahmt ihn. Und damit auch den Stoff.

Das ist die pikante Selbstbezichtigung, die aus den Rezensionen spricht. Es geht nicht nur darum, was Würger gemacht hat, sondern auch darum, was er mit dem Leser, dem Rezensenten gemacht hat. Wenn Dirk Knipphals empört über „Lektüreporn“ (10) spricht, dann auch, weil er stilistisch gedrängt wurde, diesen Porno zu lesen.

Dokutainment?

Fabian Wolff beschreibt in seiner Rezension in der SZ das Buch als „ein einziges sic!“. Sic! schreibt man hinter Zitate, in denen man Rechtschreibfehler und andere Ungeheuerlichkeiten übernimmt, um den Fehler zurückzudatieren. Und damit kommen wir bereits zu Pudels Kern: Wolff wendet sich vor allem gegen das Dokufiktionale in dem Buch. Würger bedient sich nämlich nicht nur an der historischen Figur, er bedient sich auch an historischen Dokumenten und baut Akten des Sowjetmilitärtribunals ein, in denen das Schicksal der Opfer dargelegt wird.

Alfredo Jaar, Real Pictures/Emmanuel, 1995, Collection M HKA, Antwerp. © M HKA.

Realitätseffekte sind in den unterschiedlichsten Medien unterschiedlich stark vorhanden. Sie zu untersuchen, ist unabdingbar, auch wenn man droht, der blinde Fleck des eigenen Strebens zu werden. Darum kehren wir noch mal zur Fotografie zurück. Grob kann man dort drei Ansätze an Dokumentarfotografie unterscheiden (11). Die ‚straight photography‘, die versucht, möglichst neutral verschiedene Aspekte unaufgeregt und multiperspektivisch zu beleuchten, aber selbst keine Stellung bezieht. Positive werden nicht manipuliert und man verwendet den ‚natürlichen’ Tonwertreichtum, sowie Schärfe und Licht. Die ‚subjektive‘ Dokumentarfotografie nach dem 2. WK nimmt sich größere Freiheiten. Hier ist der eigene Blick, die eigene Haltung wichtiger Ausgangspunkt. John Szarkowski hat einige dieser Fotografen in der folgenreichen Ausstellung ‚New Documents‘ (1967) im MoMA gewürdigt. Diese Haltung legitimiert der Fotograf durch Zeugenschaft, er ist ‚betroffen‘, ‚dabei‘ und seine Fotografien mögen Ausschnitte, aber relevante Zeugnisse dieser Augenzeugenschaft sein. Diese Ansätze werden seit den 70er Jahren durch Vertreter des ‚Postdocumentary‘ kritisiert. Einer ihrer Vertreter ist Alfredo Jaar. Seine Arbeit „Real Pictures“ (1995) besteht aus Schachteln mit Beschreibungen (Abb. 2). In den Schachteln sind Fotografien von dem Völkermord in Ruanda, die aber nicht sichtbar sind, sondern ‚nur‘ beschrieben werden. Wenn Jaar Beschreibungen wählt, um seine Bilder zu ‚entschärfen‘, nutzt Würger eine andere Textsorte. Er beschreibt nicht, er erzählt; suggestiv in den gleichen Kategorien des Kitschs, die man dem World Press Photo seit Jahren vorwirft (12): Einfachheit in Komposition und Emotion verdrängen Kontexte und präferieren Affekte. Dramatisierungen und Rückgriffe auf ikonografische Muster interpolieren Sinn und Bedeutsamkeit.

Die Literatur führt einen Diskurs, der in der Fotografie seit langem lebendig ist. Postdokumentarische Ansätze wollen dreierlei: eine Autonomie der Künstler, der gezeigten Objekte und der Rezipienten. Eine solche Autonomie kann den Lesern nur durch eine Umgebung angeboten werden, wo nicht vorab differenziert, kategorisiert und beurteilt wird. Wo das Gefühl oder die Erkenntnis schon vorgegeben sind, wo Mitgefühl eingekauft oder ein bestimmter politischer Plan umgesetzt werden soll. Der Leser soll die gezeigte Kunst nicht länger konsumieren können, sondern muss sich selbst auf eine Form der Wahrheitssuche begeben (13). Und diese Autonomie lässt die Stilistik Würgers nicht zu. Hier berühren sich Ethik und Ästhetik. Der Autor darf natürlich alles. Der Rezipient aber auch. Alles, außer den Autor in seinen Äußerungen zensieren. Das gilt für Dana Schutz wie für Takis Würger und seine Verleger. Oder, mit Remigius Bunia ausgedrückt: „Das Recht steht vor dem Problem, dass Kunstfreiheit auch bedeutet, Kunst nicht rechtlich definieren zu können.“

Kann eine ‚schöne‘ Geschichte eine ‚wahre‘ Geschichte sein? Ich glaube nicht. Nicht ohne Grund mussten Wissenschaften im 19. Jahrhundert die strikte Trennung von Ethik und Ästhetik behaupten, um als Wissenschaft übersubjektiv Geltung beanspruchen zu können (14). Form und Inhalt sind nichts, was sich separat verhandeln ließe. Denn: Genauigkeit ist oft unschön. Wissenschaft ist oft unschön. Sie hat lange Sätze, Fußnoten, Adverbial- und Konjunktivkonstruktionen, die versuchen, für Genauigkeit im Ausdruck zu sorgen und nicht zu vergessen Fremdwörter. Wörter, die eine Fachwissenschaft gebildet hat, weil es den Begriff in der Alltagskommunikation nicht gab. Nicht schön, aber notwendig. Schönheit verlangt man nicht von Wissenschaft. Genauigkeit schon.

Dr. Anja Schürmann

anja.schuermann@uni-duesseldorf.de

(1) Vgl. https://www.sueddeutsche.de/kultur/takis-wuerger-stella-goldschlag-rezension-buchkritik-1.4282968-2, zuletzt besucht: 28.01.2019.

(2) So der Buchtitel einer Aufsatzsammlung, die 2003 vom US-amerikanischen Kulturtheoretiker Greg Tate herausgegeben wurde. Sie beschäftigt sich mit schwarzer Popkultur und ihr Untertitel macht das Thema deutlich: „What White People Are Taking From Black Culture.“

(3) Zitiert n. https://www.deutschlandfunk.de/ueber-kunst-zensur-und-zerstoerung-das-bild-muss-weg.1184.de.html?dram:article\_id=394153, zuletzt besucht: 22.01.2019

(4) Vgl. zur Hybridisierung von Kultur z.B. Néstor García Canclini, Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity, Minneapolis 1995.

(5) Shahidul Alam, The Majority World looks back, in: New Internationalist, August 2007, S. 4–9. Zitiert und übersetzt nach: Museum Folkwang und Fotomuseum Winterthur (Hg.), Manifeste!: Eine andere Geschichte der Fotografie, Ausst. Kat. Essen/Winterthur, Göttingen 2014, S. 342–349. Link: https://newint.org/features/2007/08/01/keynote-photography zuletzt besucht: 24.01.2019.

(6) http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fall-claas-relotius-spiegel-legt-betrug-im-eigenen-haus-offen-a-1244579.html zuletzt besucht: 26.01.2019.

(7) http://www.taz.de/!5564017/ zuletzt besucht: 26.01.2019.

(8) Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/takis-wuerger-stella-eine-nazischnurre-mit-fertigfiguren.700.de.html?dram:article\_id=437969 zuletzt besucht: 26.01.2019. Die Ausgangsbedeutung von „flott“ ist „obenauf schwimmend“. Vgl. https://www.dwds.de/wb/flott#et-1 zuletzt besucht: 26.01.2019.

(9) https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-kritik-an-takis-wuergers-roman-stella-furor-fakten-fiktion/23865194.html zuletzt besucht: 26.01.2019.

(10) http://www.taz.de/!5564017/ zuletzt besucht: 26.01.2019.

(11) Zur Vertiefung empfehle ich die Forschungen von Abigail Solomon-Godeau. Z.B.; Dies., Wer spricht so? Einige Fragen zur Dokumentarfotografie, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. Main 2003, S. 53–74.

(12) Vgl. z.B. Marta Zarzycka, Gendered Tropes in War Photography: Mothers, Mourners, Soldiers, New York 2016.

(13) Vgl. Ine Gevers, Images that demand consummation. Postdocumentary photography, art and ethics, in: Frits Gierstberg, Maartje van den Heuvel, Hans Scholten u.a. (Hg.), Documentary now! Contemporary strategies in photography, film and the visual arts, Rotterdam 2005, S. 82–99.

(14) Weiterführend: Anja Schürmann, Begriffliches Sehen. Beschreibung als kunsthistorisches Medium im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2018.

Anja Schürmann
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29. Januar 2019

Kunst im öffentlichen Raum muss neu gedacht werden!

Das angebliche Versprechen nach mehr Teilhabe und Demokratie durch einer Kunst, die das Museum verlässt und den öffentlichen Raum erobert, ist trügerisch – und für die Kunst selbst gefährlich.

Steht ein Kunstwerk nicht in einer Museumshalle, sondern im öffentlichen Raum, dann glauben einige, sie hätten den Deckel einer Dose Zauberpulver geöffnet. Oder als hätten sie einen Tiger endlich aus seinem Käfig gelassen, so dass er hungrig in die Freiheit rennt, aber anstatt auf Beutejagd zu gehen, bringt er Anwohner und Passanten zusammen, schafft er soziale Nähe, Inklusion und Kunstverständnis. Die Versprechungen von Kunst im öffentlichen Raum gleichen denen eines sozialpädagogischen Wundermittels mit kunstaffinen Nebenwirkungen.

Wie fast alle Großstädte, wirbt auch die Stadt München mit ihrer Unterstützung für Kunst im öffentlichen Raum. So heißt es auf ihrer Homepage: „Dahinter steht das Bewusstsein, dass Kunst und Kreativität wichtige Elemente des urbanen Lebens sind, den Stadtraum positiv prägen können und zur Lebensqualität beitragen.“ Die Wohngenossenschaft Saga aus Hamburg schreibt über ihr Engagement über Kunst im Außenraum: „Kunst bringt Menschen zusammen, fördert die Kommunikation und belebt Stadtteile auf besondere Weise“[. Die Zeit zitierte aus den Statuten der Saga zusätzlich folgende Ziele: „die Förderung eines niedrigschwelligen Zugangs von Stadtteilbewohnern zur Kunst sowie einer positiven Identifikation mit ihrem Stadtteil.“[ Anja Hajduk, Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt resümierte: „Kunst im öffentlichen Raum ist Kunst für alle.“[

Kunst für alle?!

Dass Kunst in diesem Ausmaß als Problemlöser verkauft wird, stammt nicht zuletzt aus falschen Schlussfolgerungen der 68er Aufstände. Die Forderungen nach mehr Authentizität, Kreativität und antiautoritären Arbeits- und Gesellschaftsstrukturen sowie der Drang nach mehr Teilhabe und Mitbestimmung statt Gehorsam und Passivität zählen als starke Impulsgeber in der wütenden Bevölkerung. Gemeint waren in erster Linie die Innen- und Außenpolitik, die Emanzipation, der Umweltschutz, die Arbeitsbedingungen, die Hierarchien in Berufs- und Familienleben sowie der industrielle Kapitalismus. Natürlich harmonisierte auch der Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann mit diesem Zeitgeist, wenn er die bildungsbürgerliche Abschirmung öffnen und ein breiteres, heterogenes Publikum an die Kunst führen wollte. Sein Credo „Kultur für alle!“ war eine wichtige und gerechtfertigte Position während der gesellschaftlichen Umbrüche. Das vermehrte Auftauchen von moderner und zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum seit den 60er/70er Jahren, in dessen Kontext Hoffmanns Credo immer wieder gerne zitiert wird, ist nur eine Folge davon. Problematisch wird es aber, wenn man davon ausgeht, dass hier eine reale demokratische Öffnung des Kunst- und Kultursektors mit immanenten, positiven, soziokulturellen Konsequenzen entsteht und entsprechende Anwohner und Passanten über die stets gelungenen Werke gefälligst zu reflektieren und sich zu freuen haben.

Probleme durch eine neue, autoritäre Pädagogisierung von Kunstwerken

Ungleichheit und Rebellion kann nicht mit Bevormundung zum Schweigen gebracht werden. Das unterstreichen auch aktuelle Vorkommnisse:

Der Künstler Michel Abdollahi (1981*) stellte 2016 in Hamburg und 2017 in Augsburg ein Werk in den öffentlichen Raum: Ein riesiger, gelber Küchenschwamm – authentisch dem handelsüblichen gelben Küchenschwamm nachempfunden, nur in seiner Größe verändert. Die Intention dahinter: Der Schwamm sei ein Symbol gegen Hass und Rassismus und dafür das Negative aus der Gesellschaft und von der Straße weg zu schrubben. Nun kam es zu dem nicht wirklich überraschenden Umstand, dass Kinder mit dem Schwamm und seinem originalen Material spielten, Flocken und größere Stücke herausrissen und auf ihm herumkletterten. Für den Künstler war dies erschreckend. In einem offenen Brief beschuldigte er die Eltern, da sie den Vandalismus ihrer Kinder nicht aufgehalten hätten, dass die Eltern sich für seine Arbeit nicht interessieren würden und das Kunstwerk nicht mit ihren Kindern erörtert hätten. Indirekt warnte er diese Eltern, dass ihre Kinder in Zukunft einen rassistischen, radikalen, mobbenden Weg einschlagen könnten und womöglich den Hitlergruß nachahmen würden. Und, dass in diesem Falle, die Eltern dann wohl auch nicht reagieren würden.

Diese Übertreibung führt zu einem Missverstehen von psychologischen Vorgängen. Der freie, sinnliche Spieltrieb von Kindern, zu dem dieses Werk hochgradig einlud, wurde nicht von autoritären Gesellschaftsstrukturen unterbunden. Dieser Spieltrieb fördert Kreativität, Querdenken sowie die individuelle Entwicklung und impft gegen blinden Gehorsam und Unterwerfung in radikale, rassistische Denksysteme. Wenn man hier unbedingt eine Entwicklungsprognose aufstellen möchte, dann die Gegenteilige, nämlich, dass sich solche Kinder später für Freiheit einsetzen werden. Die zweite Erkenntnis aus der Schwamminstallation ist die, dass Kunst im öffentlichen Raum keine autoritäre, (ver-)urteilende Handels- bzw. Reflexionsanweisung besitzen darf. Auch moralische Erpressung zum absoluten Gehorsam der Rezipienten ist das Gegenteil einer demokratisch gedachten Kultur-für-alle-Philosophie.

Kunst kann auch separieren

Doch auch unpolitische Kunst im öffentlichen Raum ist nicht problembefreit. Hauptsächlich ästhetisch gedachte Werke, besonders wie man sie aus der Moderne kennt, führen ebenfalls nicht zwangsläufig zu mehr Kunstverständnis. Im Gegenteil, sie kann Anwohner auch zu (neuen) Kunsthassern machen, das heißt separieren anstatt zu vereinen. Können auch Kunsthistoriker nicht immer eine visuelle oder intellektuelle Freude über abstrakte, geometrische Skulpturen verspüren, ist dies bei der Bevölkerung nicht anders. Steht Kunst in einem Museum oder in einer Galerie, kann jeder selbst entscheiden, ob er sich diese anschaut oder nicht. Steht Kunst in einem Wohnviertel, sind die Anwohner gezwungen jeden Tag mit ihr zu leben, es sei denn sie wollen sich strafbar machen und Sachbeschädigung begehen.

Lösungsmodelle

Aber eine demokratische Wahl der Bürger für ein Kunstwerk hat ebenfalls ihre Kehrseiten. Würden Qualitätsunterschiede immer erkannt werden? Darüber hinaus darf und sollte Kunst im öffentlichen Raum auch provokant, unerwartet, unbequem und an Minderheiten gerichtet sein. Eine offene Bürgerwahl könnte auch dies nicht immer garantieren. Doch auch Jurys, Städte und Geldgeber machen Fehler. Was kann man verändern?

  1. Künstler, Städte und Förderer schrauben die medialen Versprechungen von Kunst im öffentlichen Raum herunter. Zusätzlich werden auch Denkfehler und Misserfolge eingeräumt.
  2. Man gibt einen größeren Teil des Geldes für Kulturwerkzeuge aus: Soziale Initiativen, die praktische Ziele verfolgen. Hier steht der direkte menschliche Nutzen über der Ästhetik und über einer Künstlerintention.
  3. Der historische Monumentalgedanke wird zu Gunsten einer zeitgenössischen Neuorientierung gelockert: Kunst im öffentlichen Raum wird temporärer durch einen regelmäßigen Wechsel über einige Wochen, Monate oder Jahre gedacht. Das heißt: Weniger Bürokratie, mehr Experimente, mutigere, innovativere und spontan agierende Projekte. Außerdem können sich so heterogene Fachjurys mit Bürgerwahlen abwechseln. Statische Orte für Kunst im öffentlichen Raum werden zu laboratorischen, vitalen Kulturplätzen, die auch offene Kunstwerke erlauben.

Es ist schade, dass Michel Abdollahi den Erfolg seiner Arbeit nicht verstand und stattdessen an einem starren Skulpturenbegriff festhielt. Seine Setzung des Werkes im öffentlichen Raum, die Schwamm zerpflückenden, eigensinnig spielenden Kinder und die abwartenden Eltern symbolisieren eine demokratische Gesellschaft (denn wäre dies in einer Diktatur möglich gewesen?), Antiautorität und Freiheit als Real-Performance. Die Kinder machten die Arbeit zu einem vollendeten, gelungenen Kunstwerk.

Larissa Kikol
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24. September 2018

Die Kanons

Thomas Kerstan hat in der Zeit einen Kanon aufgestellt.  Kreativ ist die Wiederbelebung dieser Idee zwar eher sekundär, kreativ war aber die Reaktion auf seine Liste.

„Glücklich ist, wer die Welt verlässt, bevor die Welt auf ihn verzichtet“

Timuridischer Spruch am Gur-Emir-Mausoleum in Samarkand, Usbekistan.

Thomas Kerstan hat in der Zeit vom 15. August 2018 einen Kanon aufgestellt. Der 15. August: Das schreit förmlich nach Sommerloch, nach Nachrichtenleere, nach Füllmaterial für Altpapiersammlungen in spe. Doch gerade dann, wenn der Saharasommer die Menschen müde, die Köpfe leer und die Nachrichtenlage dünn werden lässt, geschieht in so einigen Redaktionen der kreativste Content, weil man endlich mal nicht aktuell sein muss. Kreativ ist die Wiederbelebung der Kanonidee zwar eher sekundär, kreativ war aber die Reaktion auf die Liste. Damit meine ich nicht #diekanon, ein allzu vorhersehbarer Reflex auf die Anzahl der Männer in Kerstans Liste und von ihm ja implizit als Fortführung gewollt. Kreativ meine ich auch nicht die Beantwortung eines selbstdiagnostizierten Desiderats („Was fehlt, ist die große öffentliche Debatte um die Inhalte“) mit einer (inhaltslosen) Liste.

Mit kreativer Reaktion meine ich Diskurse wie diesen hier: Eine Balthus-Ausstellung in der Fondation Beyeler  wird zum Anlass genommen, den männlich dominierten Kanon zu kritisieren. Die Chefredakteurin des Monopol Magazins Elke Buhr will einen Kanon revidieren, der Repräsentant von Macht und Geschlechterverhältnissen ist, die längst neu verhandelt sind. Sie sagt, dass man sichtbar machen muss, dass Balthus „im Kontext des Patriarchats gearbeitet“ (1) hat. Er hat sicher im Kontext des Patriarchats gearbeitet. Er hat aber auch im Kontext der christlichen Ikonographie gearbeitet, wie Barbara Vinken betont. Welcher Kontext ist jetzt kontextiger? Der synchrone, hermeneutische Blick wie bei Vinken oder der asynchrone Blick, der der heutigen Irritation Raum gibt und eben nicht verstehen will? Ein Kanon als Liste stärkt hermeneutische Fragestellungen, stärkt die Isolierung, die in Begriffen wie Meisterwerk oder Genie der Geistesgeschichte nicht immer gute Dienste erwiesen hat. Und: Ein Kanon bedarf der Gatekeeper, die Gatekeeper aber bedürfen eines geschlossenen Feldes. Elke Buhr hat in diesem Kontext sogar ein hervorragendes kuratorisches Angebot gemacht: Warum stellt man Balthus nicht zusammen mit der Malerin Alice Neel aus, die in ihren gegenständlichen Arbeiten ähnliche Sujets thematisiert? Damit wird meiner Meinung nach der Kern des Problems adressiert: Die Retrospektive als Ausstellungsformat. Fiona McGovern schreibt:

„Das konventionelle Ausstellungsformat der Retrospektive definiert sich gemeinhin als eine monografisch ausgerichtete, museale Ausstellung mit dem Anliegen, einen Überblick der unterschiedlichen und meist chronologisch gehängten Werkphasen eines Künstlers zu bieten. (…) So beinhaltet diese „unausweichliche Etappe in der Karriere eines Künstlers“, wie Daniel Buren in seinen Ausführungen zu diesem Ausstellungsformat betont, immer auch eine Form der institutionellen Anerkennung, die in der Regel mit einer globalen Wertsteigerung einhergeht (…).“ (2)

Alice Neel. Hartley. 1966. oil on canvas. 127 x 91,5cm. Gift of Arthur M. Bullowa. National Gallery of Art Washington.

Zugespitzt heißt das: Die Retrospektive ist ein Werkzeug der Kanonisierung. Wer sie hat ist drin, wer sie nicht hat, muss noch ein wenig länger in der Sparte der Neuentdeckungen ausharren. Es gibt – der Vollständigkeit halber – auch Retrospektiven mit wissenschaftlichem Anspruch, wo tatsächlich nicht nur beweihräuchert und monografisch zurechtgestutzt wird, sondern auch (selbst-)kritisch mit Werk und Kontext umgegangen wird. Aber immer weniger. Eine große monografische Ausstellung ist meist von den Künstlern oder dessen Erben abhängig, die kein Interesse an Kritik haben. Oder aber von leihenden Institutionen, die Neubewertungen ihrer Unique Selling Points ebenfalls nicht notwendigerweise positiv entgegensehen.

Mit jeder retrospektiven Ausstellung, die ja gerne auch auf Tournee gehen, wird der Status des Künstlers durch das Museum als Instanz der Rahmung gesichert, Wert ist die verhandelte Norm und Buhrs Kritik ist somit auch eine Kritik an der erneuten Kanonisierung eines Künstlers, dessen Verbleib im Kanon kritisiert werden müsste. Dabei hat – linguistisch betrachtet – Wert eine problematische Doppelbedeutung: Mit Wert übersetzt der Kanon Geschmack in Rang, eine subjektive Meinung wird ein objektives Kriterium. Ein objektives Kriterium, das sich sowohl ästhetisch als auch finanziell als Wert verhandelt, beide Ausprägungen von Wert sind stark korreliert. Daher sollte man immer begründet urteilen, wenn es um die Erstellung/Revision eines Kanons geht. Was aber weder bei der Frauen-, noch bei der Männerliste geschieht.

Bereits das Wort Kanon, welches aus dem Griechischen mit Summe aller Regeln übersetzt werden kann, besitzt eine exklusive Dimension. Setzt sich ein bestimmter Kanon bspw. in der Kunstgeschichte durch, so geht dieser Prozess immer mit dem Ausschluss von Künstlerinnen und Künstlern, bestimmten Ästhetiken, Regionen oder künstlerischen Medien und Techniken einher. Ein Kanon kann dennoch durchaus nützlich sein. Zur Orientierung, aber auch als Sichtbarmachung der Maßnahmen, die zu ihm geführt haben. Eine Medizin oder gar ein Heilsversprechen ist er nicht. Die Hoffnung, dass „(E)in gemeinsamer Fundus an Büchern, Filmen, Kunstwerken, Erfindungen und Entdeckungen das Große und Ganze zusammenhalten“ kann, die Thomas Kerstan hegt, ist naiv und nicht seine Aufgabe. Oder wie Dirk Knipphals sagt: „Wer angesichts von ausgetragenen Konflikten von Zerrissenheit redet, sollte erst einmal seine eigenen Fantasien von Einheit und Homogenisierung hinterfragen.“

Die Kanons in der Zeit und jene Ergänzung bei Watson und im Spiegel zu vergleichen ist aber unfair: Sind es Werke (der bildenden Kunst, der Musik, des Computerspiels…), die in der Zeit als kanonisch bezeichnet werden, kontern die Autorinnen im Spiegel mit (weiblichen) Menschen. Man kann kein Objekt gegen ein Geschlecht in Stellung bringen, ebenso wenig wie umgekehrt. Was bei dieser Debatte allerdings deutlich wird, sind die Vorstellungen eines Kanons zwischen Qualität und Repräsentanz: Die Literaturwissenschaftlerin Sigrid Löffler sagt richtig: „Ein Kanon ist ja nur dann ein Kanon, wenn er von der Gesellschaft als verbindlich anerkannt wird.“ (3) Um von der Gesellschaft getragen zu werden, so der Umkehrschluss, muss sie sich im Kanon auch vertreten fühlen. Doch wie funktioniert Repräsentation? Hilft die Aufnahme von weiblichen, queeren, nichteuropäischen AUTOREN, ist es wichtig, weibliche, queere, nichteuropäische GESCHICHTEN zu erzählen, egal, wer sie erzählt oder ist es vielleicht doch eine Frage der Qualität, egal welcher Minderheit, die wie immer zwischen Form und Inhalt zu finden ist? Löffler kritisiert zudem zurecht jede Liste, da „ein Kanon sich über lange Zeiträume, manchmal über Jahrhunderte heraus (mendelt). Er besteht aus Texten (oder anderem AS), die von der Gesellschaft als so bedeutend anerkannt werden, dass sie im Gedächtnis der Menschheit lebendig bleiben und über die Zeiten hinweg nicht vergessen werden.“(4) Zu den Gründen des Nichtvergessens schweigt sie, nennt aber Qualität, für die es ihrer Meinung nach „keinen unveränderlichen Maßstab“(5) gebe.

Nanette Salomon hat in einem brillanten Essay die Auslassungssünden der männlich dominierten Kunstgeschichte seit Vasari zusammengetragen. Sie sagt:

„Vasari begründete eine Struktur oder eine diskursive Form, die in ihrer unendlichen Wiederholung die Dominanz eines bestimmten Geschlechts, einer bestimmten Klasse und einer Rasse als Tempelwächter von Kunst und Kultur produzierte und perpetuierte.“

Aber auch: „Seit Vasari erklärt sich uns ein Kunstwerk allein durch die Biographie seines Schöpfers.“ (6) Wiederholen wir nicht diese Strategien, wenn wir heute – lange nach dessen Tod – den Autor in seiner (weiblichen, migrantischen, queeren) Perspektive restituieren? Der Autor ist tot, die Administration hält nur noch den Fuß in der Tür.

Wir haben uns doch schon recht weit vor- oder besser zurück gearbeitet: 14 Milliarden Jahre Geschichte gefunden. Alles da. Alles wahr. 14 Milliarden Jahre, in denen noch der abseitigste Staub der Ereignisse mit Relevanzverdacht versehen, gespeichert und verknüpft wird. 14 Milliarden Jahre, bevölkert mit völlig fremden Wesen, die zwar Zeit, aber keine Begriffe teilen. Wie kann die Katzenklappe in eine Welt erträglicherer Relevanz-Allianzen – die man Kanon nennt – aussehen, ohne mumifizierte Luft zu atmen?

Festigkeit wird zurecht vakant und die Strukturen dürfen nicht signifikanter als ihr Material werden. Es geht um die Vertikalität der Zeit und nicht nur um Inhalte. Die Becher- oder Gießkannenvorstellung von Kunst muss sich auch einer ästhetischen Debatte stellen. Formal wie inhaltlich zeitlose Kunst ist auch deshalb so nachhaltig, weil sie von Künstlern und Wissenschaftlern immer wieder aufgegriffen wird. Aufgegriffen werden konnte. Denn ja, es geht um Inhalte, aber nicht nur. Auch um die Form. Nicht nur als Selbstüberprüfung, sondern auch als Kratzbaum der Forschung.

anja.schuermann@uni-duesseldorf.de

(1) Vgl. https://www.zdf.de/kultur/kulturzeit/elke-buhr-ueber-die-balthus-schau-100.html (4:10), zuletzt besucht: 14.09.2018.

(2) Fiona McGovern, Die Kunst zu zeigen: Künstlerische Ausstellungsdisplays bei Joseph Beuys, Martin Kippenberger, Mike Kelley und Manfred Pernice, Bielefeld 2006, S. 82.

(3) https://www.deutschlandfunk.de/literaturkritikerin-sigrid-loeffler-der-westliche-kanon.691.de.html?dram:article\_id=426620, zuletzt besucht: 14.09.2018.

(4) Ebd.

(5) Ebd.

(6) Nanette Salomon, Der kunsthistorische Kanon – Unterlassungssünden*, in: kritische berichte 4 (1993), S. 27–40, hier S. 28.

Anja Schürmann
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Screenshot ©SWR

21. Mai 2018

Teilhabe gleich oder ungleich ‚leichte Sprache‘?

Über Kunstvermittlung und ihre Zugänge.

Als Gregor Jansen, Direktor der Kunsthalle Düsseldorf, in einem Interview die „Infantilisierung der Kunst“ anprangerte und genervt war von ‚leichter Sprache‘ und das „alles dem Thema Vermittlung geopfert wird“, war der Aufschrei groß. Vor allem bei den Kunstvermittlern. Jansen verglich ‚leichte Sprache‘ mit sportlichen Höchstleistungen, die er und sein Team wollen, was aber dem Anspruch der ‚leichten Sprache‘ entgegenstünde. Generell stand sein Appell im Dienste einer Art von Aufklärung, die Erwachsene nicht vor Kunst schützen, warnen oder kleinteilig zu ihr hinleiten will. Komplexität soll als Komplexität darstellbar sein und Populismus negiere genau diese Komplexität und Mehrdeutigkeit.

Das aufgezeichnete Video wurde in einer Facebook Gruppe geteilt und mit der rhetorischen Frage versehen: „Darf der Direktor einer Kulturinstitution heute noch so denken?“ Eine Diskussion entspann sich, die – grob gesagt – nein antwortete. Und tatsächlich sehe auch ich einige Kritikpunkte. Auf beiden Seiten:

– Gregor Jansen verknüpft die Entmündigung und Infantilisierung des Besuchers mit einem ADDITIV gedachten Angebot an Menschen mit geistigen Beeinträchtigungen und Sprachneulingen: Das ist undifferenziert.

– Gregor Jansen sieht „alles dem Thema Vermittlung geopfert“. Auch hier würde ich widersprechen: Kunstvermittelnde und -pädagogische Angebote sind längst nicht in allen Museen oder Ausstellungshäusern zu finden und werden in letzter Zeit zunehmend outgesourced: an unbezahlte und unausgebildete ‚Freiwillige‘, die in Freundeskreisen organisiert diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen sollen.

Aber auch:

– Die Kunstvermittlung reduziert das Gesagte auf den Tatbestand der ‚leichten Sprache‘. Auch das ist undifferenziert. Außerdem darf sie nicht Gregor Jansen seine Meinung verbieten: Damit wendet sie ähnliche Taktiken der Entmündigung an, die Jansen zu Recht kritisiert.

Quelle: Twitter @TiniDo

– Generell ist auch diese Diskussion in den sozialen Medien nicht unbedingt durch Sachlichkeit aufgefallen. Das ist übrigens ebenfalls etwas, was zur – von Jansen zitierten – ‚Erwachsenensprache‘ von Robert Pfaller gehört: Gleichheit in der öffentlichen Debatte ist nur herzustellen, wenn Argumente und nicht Beschimpfungen oder Befindlichkeiten ausgetauscht würden. Gesellschaftliche Solidarität gelingt laut Pfaller erst dann, wenn man Selbstdistanz übt und versucht, eine kollektive Vorstellung von Allgemeinwohl zu erarbeiten, die nicht primär von eigenen Interessen geleitet ist. Die Betonung der „Identitätskostbarkeit oder Verletzbarkeit“ des Einzelnen ist laut Pfaller ein erster Schritt zu Verteilungskämpfen einer entsolidarisierten Gesellschaft, in der nur Ichs oder Kleinkollektive gegeneinander ausgespielt werden. (1) Der für mich interessantere Gedanke aber ist etwas, was keine der Seiten genannt hat: Ist ein Tool, das vor allem Verwaltungsvorschriften, bürokratische Prozesse und Formulare vereinfachen soll, in der Kunstvermittlung geeignet? Und wenn ja, für was?

Erst einmal ein paar Hintergründe: Die ‚leichte Sprache‘ ist keine deutsche Erfindung. Sowohl in englischsprachigen Ländern als auch in Schweden gibt es die Lätt Läst (das war schwedisch :). Außerdem gibt es Unterschiede zwischen ‚leichter‘ und ‚einfacher Sprache‘, die hier gut erklärt werden. Für erstere existiert ein rigides Regelwerk, für letztere nicht. Außerdem sind die Zielgruppen andere, wobei bei letzterer bspw. auch Senioren und Teenager genannt werden. Seit dem 1. Januar 2018 sollen Behörden und Sozialversicherungsträger mit Menschen in einfacher und verständlicher Sprache kommunizieren. Das ist eine Forderung des Behindertengleichstellungsgesetzes. Deutschland hat aber auch die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, in deren Artikel 9 steht:

„Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten.“ (2)

Damit würden nicht nur Versicherungen, Arbeitsagenturen und Ärzte auf die Verwendung von leichter Sprache verpflichtet, sondern jegliche „Dienste, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offen stehen“, sprich: Auch Ausstellungshäuser und Museen. Der Hang zum Kompositum und der Fetisch der Rechtssicherheit gehen in der deutschen Sprache seit langem eine unheilige Allianz ein. Und so wichtig es ist – nicht nur für die engere Zielgruppe –, bürokratische Sprachwucherungen zu simplifizieren, umso mehr muss man sich Fragen der Übersetzbarkeit zuwenden, gerade wenn es um andere Fachsprachen geht.

Fachsprache wäre keine Fachsprache, wenn sie Äquivalente in der ‚leichten Sprache‘ hätte. Ästhetik ist nämlich nicht gleich schön. Es gibt Texte, die keine – wie auch immer geartete – Übersetzung zulassen. Und es gibt Kunst, die keine Texte zulässt. Sie kann nicht im gleichen Maße sprachlich dingfest gemacht werden wie das reale Vorbild jener Übersetzung. Jede Übersetzung wäre eine doppelte, eine Übersetzung von nichttextbasierter Kunst in einen Text, der sich und seine Fachsprachlichkeit nicht nur Fetischen verdankt und eine Übersetzung von Fachsprache in ‚leichte Sprache‘. Und jede Übersetzung versieht unweigerlich die Aussage mit einem eigenen Sinn. Die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit der Sprache, ihre genuine Unschärfe, ist nicht etwas, was man bedauern sollte. Man sollte sie nutzen. Nutzen in dem Sinne, dass man sie als Gebärdensprache, als Krücke des stummen Erstaunens nutzt, in einer Sprache, die vielleicht nicht jeder versteht, die aber assoziativ fruchtbar gemacht werden kann, da ihr nicht nur eine reproduktive, sondern auch eine produktive Kraft zukommt. Sie sollte als Kraft, nicht als Norm genutzt werden. Was das konkret heißt? Keine zwei Schalen mit Audioguides, wo auf einer ‚leichte Sprache‘ steht. Eher eine App mit verschiedenen Informationsebenen, die man autonom wählen kann, wie sie beispielsweise das Rijksmuseum entwickelt hat. Professionelle Kunstvermittler, die auf jede Besuchergruppe gezielt eingehen können und so auch verschiedene Vermittlungsniveaus und -ansätze beherrschen. Aber auch: Kunstvermittlungsprogramme, die nicht sprachlich basiert sind. Finanzamtvordrucke, die man nicht verstehen kann, kann man nicht ausfüllen. Kunst kann man durchaus auch ohne jegliche Form der Vermittlung erfahren.

Um noch mal zu dem von Jansen zitierten Robert Pfaller zurückzukommen: Er ist der Meinung, dass im Namen der Inklusion viele Maßnahmen, die in den letzten Jahren aufgelegt wurden, Deckmaßnahmen sind (3). Um wirkliche Unterschiede, wie beispielsweise die Tatsache, dass man in Behindertenwerkstätten alles andere als Mindestlohn verdient oder dass der Lohn vieler Menschen mit Behinderungen fast vollständig auf ihre Leistungen angerechnet wird, nicht anzugehen, zeigt man auf Maßnahmen wie ‚leichte Sprache‘ und sagt: Guck mal, hier wird was getan. Er regt sich über marginale Änderungen auf, die großflächigere Ungerechtigkeiten aus dem Blick geraten lassen.

Eine andere Kritik kommt aus den Sprachwissenschaften: Jüngere Forschungen haben belegt, dass Sprache und kognitive Vorstellungskraft nicht unabhängig voneinander sind. Dass eine ausdifferenzierte Sprache auch Effekte des Denkens und Fühlens komplexer gestaltet. Zwar ist die Forschung zu diesen „Relativitätseffekten“ noch jung, doch zieht Anatol Stefanowitsch das Fazit:

„Selbst wenn sich ein direkter Zusammenhang zwischen sprachlicher Ausdifferenzierung und der Abstraktheit und Komplexität von Denkprozessen nicht bestätigen ließe, gibt es aber mindestens drei Bezugspunkte zwischen Sprache und Denken, welche die bewusste Einschränkung sprachlicher Komplexität problematisch erscheinen lassen.“ (4) Das ist auch von ihm nicht als generelles Verdikt gegen die ‚leichte Sprache‘ verwendet worden. Aber könnte – und dem schließe ich mich an – als Diskussionsgrundlage für eine Debatte über Formen, Übersetzungs- und Anwendungsbereiche dienen. Man sollte Sprache nicht leichtfertig einfacher gestalten, als es die kommunizierten Inhalte erfordern, denn: Alles wird nie für jeden auf die gleiche Art verständlich sein.

(1) Vgl. Robert Pfaller, Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur, Frankfurt a. Main 2017, S. 23f.

(2) https://www.behindertenrechtskonvention.info/uebereinkommen-ueber-die-rechte-von-menschen-mit-behinderungen-3101/

(3) Robert Pfaller, Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur, Frankfurt a. Main 2017, S. 25ff.

(4) http://www.bpb.de/apuz/179343/leichte-sprache-komplexe-wirklichkeit?p=all

Anja Schürmann
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