Ein Zoom-Gespräch mit Georg Seeßlen, Anne Schülke und Emmanuel Mir.
Die zweite Welle der Pandemie rollt bereits über Deutschland und wir müssen uns unterhalten. Über die Relevanz von Kunst in einer Welt, die andere Probleme hat. Über den Status von Künstler*innen, die entweder zu viel oder zu wenig bekommen. Über das ästhetische Erlebnis, das in zerrütteten Zeiten als unnötiger Luxus degradiert oder als lebensnotwendiges Gut hochstilisiert wird.
Stand: 13. Mai 2020
Wie für alle Selbstständige in prekären Arbeitsverhältnissen trifft die Pandemie sehr viele Kunstschaffenden besonders hart. Eröffnungen und Auftritte werden abgesagt, Galerien und Ausstellungsinstitutionen bleiben geschlossen, und sogar die Kunstproduktion kann in den meisten Fällen nur begrenzt fortgeführt werden. Dabei bleibt das größte Problem der breiten Mehrheit der Künstler*innen der Wegfall ihrer Nebenbeschäftigung, die für ihr finanzielles Überleben unabdingbar ist.
Nachdem die Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW, Frau Pfeiffer-Poensgen, bereits am 13. März versichert hat, „Initiativen, Einrichtungen und Einzelkünstler, die durch die aktuelle Lage unverschuldet in existenzielle Nöte geraten sind, zu unterstützen“, werden die einzelne Maßnahmen nach und nach bekannt gegeben – auch auf dieser Seite. Wir sammeln also Informationen, die für bildende Künstler*innen hilfreich sein können. Und sind für Ihre Hinweisen, Ideen und Anmerkungen im Zusammenhang mit der aktuellen Krise sehr dankbar!
13.5 Die NRW-Soforthilfe und das MKW-Soforthilfe-Programm werden ausgeweitet
Die Verwendungsbedingungen der für bildende Künstler*innen in NRW relevanten Hilfsprogrammen wurden nachgebessert. Hier die (sehr) kurze Zusammenfassung:
– MKW-Soforthilfe-Programm („2.000€-Hilfe“): Antragsberechtigte, die bereits einen Antrag gestellt haben, bislang aufgrund der Mittelbegrenzung auf fünf Millionen Euro jedoch nicht zum Zuge gekommen sind, erhalten unter Nachweis ihrer künstlerischen Tätigkeit (Mitgliedschaft in Künstlersozialkasse oder anderem Künstlerbund) einen finanziellen Zuschuss für ihren Lebensunterhalt in Höhe von 2.000 Euro für die Monate März und April. Voraussetzung ist, dass sie im März und April keine Leistungen aus dem MKW-Programm, der NRW-Soforthilfe 2020 oder der Grundsicherung bezogen haben.
– NRW-Soforthilfe („9.000€-Hilfe“): Nach dem Willen der Bundesregierung darf die Soforthilfe nur für laufende betriebliche Sach- und Finanzaufwendungen verwendet werden und nicht für den Lebensunterhalt. Damit Solo-Selbstständigen, die im März und April keinen Antrag auf Grundsicherung gestellt haben, daraus kein Nachteil entsteht, gewährt die Landesregierung ihnen für diese Monate einen indirekten Zuschuss von insgesamt 2.000 Euro.
Mehr Informationen hier.
12.4 Handreichung für die Unterstützung selbstständiger und freier Kulturschaffender von ver.di
Unter den Maßnahmen gegen die Verbreitung des Covid-19 leiden nicht nur Künstlerinnen und Künstler. Veranstaltungsabsagen treffen diese Gruppe der Solo-Selbständigen und Freelancer im Kultur- und Kreativbereich besonders hart, weil sie meist prekär leben. Jetzt sind Kunstschaffende selbst, aber auch ihre Interessensvertretungen, die öffentliche Hand, Gesellschaft, Medien und Institutionen gefragt, sich für den Erhalt der lebendigen, freien und vielfältigen Kultur einzusetzen. Denn Kultur ist mit ca. 1,7 Millionen Kernbeschäftigten insgesamt (und davon ca. 500.000 Soloselbständigen) nicht nur drittstärkster Wirtschaftsfaktor (in Deutschland), sondern auch Grundnahrungsmittel einer freien und demokratischen Gesellschaft – und wird, gerade jetzt, wenn Sozialkontakte vermieden werden sollen und die häusliche Freizeit gefüllt werden will, mehr denn je genutzt werden. Gleichzeitig werden Autorinnen/Autoren und Künstlerinnen/Künstler dabei hohe Verluste durch ausfallende Engagements erleiden. Diesen Widerspruch gilt es aufzulösen – denn wer die Kultur für morgen erhalten will, sollte sich heute für sie einsetzen.
Mehr dazu hier
31.3: Erklärung Verbände bildender Künstlerinnen und Künstler
die angekündigten Nothilfepakete der Bundesregierung sind nun als Gesetze beschlossen: das „Sozialschutz-Paket“ und die „Corona-Soforthilfe für Kleinstunternehmen und Soloselbständige“. In Ergänzung zu den bereits beschlossenen Maßnahmen haben die Verbände Bildender Künstlerinnen und Künstler eine gemeinsame Erklärung mit Forderungen zur Erweiterung der bereits getroffenen Hilfen verfasst. Die vollständige Erklärung ist in der Anlage zu finden. Aktuelle und weiterführende Informationen, sowie Links zu Hilfsprogrammen gibt es unter: https://www.bbk-bundesverband.
30.3: Soforthilfe („9.000€-Antrag“)
Vor rund zwei Wochen hat das Kulturministerium die Beantragung einer Soforthilfe von 2.000 Euro für Kreativschaffende ermöglicht. Und zwar unabhängig davon, ob der Antragstellende eine Gewerbeanmeldung hat oder nicht. Da Freiberufler in der Regel kein Gewerbe angemeldet haben, konnten sie diese Soforthilfe auch beantragen. Jetzt können sie zusätzlich dazu noch die 9.000 Euro-Soforthilfe des Landes NRW beantragen. Hier ist nämlich jetzt die Hürde weggefallen, dass für die Antragstellung eine Gewerbeanmeldung vorliegen muss. Eine Kombination der 2.000 Euro- und 9.000 Euro-Hilfe wird somit möglich.
Die Antragsfrist für die Zuschüsse ist bis zum 31.05.2020 verlängert worden. Außerdem wurde der Hinweis aufgenommen, dass der Antrag erst gestellt werden soll, wenn die Voraussetzungen auf das Unternehmen zutreffen. Damit wird dem Rechnung getragen, dass der relevante Zeitraum für den zu erwartenden Umsatzeinbruch erst am 16.03.2020 begonnen hat und sich in vielen Fällen die gravierenden Auswirkungen erst im April/Mai 2020 zeigen werde. Sollten Sie unsicher sein, ob die Umsätze tatsächlich unter die 50% Grenze fallen werden, empfehlen Steuerexperten, dennoch den Antrag kurzfristig zu stellen. Schließlich wird es einige Zeit dauern, bis die Anträge abgearbeitet sind und das Geld ausbezahlt werden kann. Sollte sich bis dahin abzeichnen, dass sich Ihre Umsätze besser entwickeln als vorhergesehen, können Sie dies anzeigen, den Antrag zurückziehen und den Zuschuss zurückzahlen.
Um besondere Härtefallsituationen möglichst zu vermeiden, sollten Sie nach erfolgreicher Antragstellung auf Soforthilfe mit der Antragsbestätigung bei Ihrer Hausbank vorsprechen und ggf. nach Möglichkeiten einer Vorfinanzierung des zu erwartenden Zuschussbetrages fragen.
27.3: Pauschalbetrag für Ausstellungsausfälle
Viele bildende Künstlerinnen und Künstler haben in den ersten Tagen des Soforthilfeprogramms zurecht beklagt, dass ein Nachweis über einen Verdienstausfall für sie unmöglich ist, weil in der Regel ausfallende Verkaufsausstellung (z.B. Vernissagen, Versteigerungen u.ä.) der Grund dafür sind. Die Bezirksregierungen haben deshalb nachgesteuert. Für jede nachgewiesene ausgefallene Veranstaltung zahlt das Land pauschal 300 € bis zu der im Programm vorgesehenen Grenze von 2000 € pro Person.
Zusätzlich zeichnet sich ab, dass über den Bundesrettungsschirm Kosten für Miete, Material und Ähnliches geltend gemacht werden können. Bitte informieren Sie sich fortlaufend!
Was passiert mit freischaffenden Künstlerinnen und Künstlern, die in Not geraten und nicht Mitglied der KSK sind?
Ein Teil dieses Programms ist als Fond zur Unterstützung von sogenannten Härtefällen reserviert. Die Gewährung des Zuschusses erfolgt in diesem Fall im Rahmen einer Einzelfallprüfung. Aufgelegt wird dieser Fonds für Künstlerinnen und Künstler, die eine Mitgliedschaft in der Künstlersozialkasse nicht nachweisen können, aber dennoch professionell und selbständig tätig sind. Der Nachweis über die künstlerische Tätigkeit ist durch die Mitgliedschaft z. B. in einer künstlerischen Vereinigung zu erbringen.
Was tun bei Einnahmenausfällen?
Dokumentieren Sie Ihre Ausfälle!!
Selbständige in der Künstlersozialversicherung versicherte Künstlerinnen und Künstler sollten jetzt, wenn sie absehen können, dass sie das im Voraus gemeldete Einkommen nicht erreichen, direkt eine neue Einkommensschätzung an Künstlersozialkasse senden. Die Künstlersozialkasse hält hierfür eine Reihe an Formularen bereit.
Weitere Informationen auf der ver.di-Seite.
Aussetzung und Herabsetzung von Steuerzahlungen
Auf Antrag können laufende Vorauszahlungen zur Einkommensteuer bzw. Körperschaftsteuer herabgesetzt oder ausgesetzt werden. Fällige Steuerzahlungen lassen sich stunden, Säumniszuschläge können erlassen werden. Auf Vollstreckungsmaßnahmen kann vorübergehend ebenso verzichtet werden. Bitte nehmt Kontakt zu eurem zuständigen Finanzamt auf.
Umgang mit Tätigkeitsverboten
Wer aufgrund des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) einem Tätigkeitsverbot unterliegt und einen Verdienstausfall erleidet, ohne krank zu sein, erhält grundsätzlich eine Entschädigung. In Nordrhein-Westfalen sind die Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL) für die Entschädigung je nach dem Sitz der Betriebsstätte zuständig. Bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hat der Arbeitgeber für längstens sechs Wochen, soweit tarifvertraglich nicht anders geregelt, die Entschädigung auszuzahlen. Die ausgezahlten Beträge werden dem Arbeitgeber auf Antrag vom Landschaftsverband Rheinland erstattet. Ab der siebten Woche wird die Entschädigung auf Antrag des Betroffenen vom LVR-Fachbereich Soziale Entschädigung an diesen direkt gezahlt.
Selbstständig Erwerbstätige stellen den Antrag auf Entschädigung direkt beim Landschaftsverband Rheinland. Voraussetzung für den Erhalt einer Entschädigung ist ein Verdienstausfall infolge eines Tätigkeitsverbotes bzw. einer Absonderung nach Infektionsschutzgesetz (IfSG). Der Antrag auf Entschädigung muss schriftlich innerhalb von drei Monaten nach Einstellung des Tätigkeitsverbots oder Ende der Absonderung beim LVR-Fachbereich Soziale Entschädigung gestellt werden.
Absage des Auftritts
Für bildende Künstler*innen in den Bereichen Performance, Klangkunst, Film und Video, etc, deren öffentlichen Auftritt abgesagt wurde, gelten folgende „Handlungsempfehlungen zum Schutz von freiberuflich arbeitenden Künstler*innen und Veranstalter*innen“, verfasst vom Verein Freies Ensemble und Orchester in Deutscland (FREO):
Die effizienteste Form von Hilfe ist die Sicherstellung, dass geschlossene Verträge zwischen Veranstalter*innen und freien Akteur*innen im Kultursektor nicht unter Force Majeure komplett aufgehoben werden, sondern für die freien Akteur*innen faire Ausfallbedingungen verhandelt werden können. Dies beschränkt eine riesige Vereinzelung der Notlagen und einen damit einhergehenden riesigen Verwaltungsaufwand in der Organisation von Unterstützung an Einzelne. Folgende Maßnahmen sind dafür zu nennen:
a) Es sollten keinerlei öffentliche Förderungen wegen Ausfall von einzelnen Veranstaltungen oder eines ganzen Festivals nicht ausgezahlt oder zurückgefordert werden. Dadurch sollen Veranstalter*innen in die Lage versetzt werden, zumindest einen Teil der Künstlerhonorare für abgesagte Veranstaltungen zahlen zu können. Zu den Künstler*innen zählen auch freie Techniker*innen, Projektmanager*innen, Maskenbildner*innen und andere Berufe „hinter der Bühne“, die genauso von den Ausfällen in dramatischer Weise betroffen sind. Bei der Auszahlung von Ausfallhonoraren sollten freischaffende Künstler*innen und freie Ensembles gegenüber solchen, die durch Festanstellung abgesichert sind, bevorzugt behandelt werden.
b) Ergänzend ist zu überlegen, wie auch zusätzliche Hilfen an die Vertragspartner der freien Akteur*innen diese in die Lage versetzen, Auslagen zu ersetzen und angemessene Ausfallhonorare zu zahlen, statt alle zugesagten Leistungen streichen zu müssen.
c) Von mehreren Seiten wurden u.a. unter dem hashtag #ichwillkeingeldzurück Kampagnen gestartet, die das Publikum bitten, nicht den Kaufpreis von Tickets für ausgefallene Veranstaltungen insbesondere freier Künstler*innen und Veranstalter*innen zurück zu fordern. Die Kulturstaatsministerin sollte dies aufgreifen und öffentlich unterstützen.
d) Ebenfalls in Zusammenhang mit den Vertragsaufhebungen ist festzuhalten: Verschiebungen von Veranstaltungen auf spätere Zeitpunkte (etwa die nächste Saison, das nächste Jahr) dürfen nicht als gleichwertige Ersatzleistung zum abgesagten Engagement betrachtet werden. Eine Verschiebung ist nicht gleichbedeutend mit dem Erhalt des wirtschaftlichen Werts des Engagements für freie Akteur*innen. Vielmehr ändert es in den meisten Fällen nichts am akuten Einnahmeverlust.
Wie entsteht Kunst? Was treibt Künstler*innen an? Und was geschieht, wenn die künstlerische Produktion nicht von externen Beobachter*innen reflektiert und kommentiert wird, sondern von den Produzent*innen selbst?
Anlässlich der Veröffentlichung des Essays von Stephan Kaluza „Mechanik Sehnsucht“ veranstaltet das Landesbüro für Bildende Kunst in Kooperation mit dem Heine Haus eine öffentliche Diskussion aus dem „Maschinenraum der Kunst“. Mit:
Stephan Kaluza (Bildender Künstler, Autor)
Dieter Nuhr (Kabarettist, Bildender Künstler)
Moderation: Denis Scheck (Literaturkritiker)
Anlässlich des Fachsymposiums „Das Büro – Zwischen Sweatshop und Künstleratelier“ im Kunsthaus NRW am 5. April 2019 hielt die Kunsthistorikerin und Kritikerin Larissa Kikol einen Vortrag über die Implementierung von Kunst im besonderen Arbeitskontext des Büros. Die Gelegenheit, auf Kikols Konzept des „kulturellen Werkzeugs“ zurückzukommen.
Auf den ersten Blick ist es keine faire Gegenüberstellung: Die Büro- und die Kunstwelt. Grau steht gegen Bunt. Standard gegen Exotik. Austauschbarkeit gegen Geniekult. Oft wird gefragt: Was können Büroangestellte von Künstlern lernen? Das Klischeebild deutet auf der einen Seite engstirnige Bürokratie und sogar Depressionen, auf der anderen Seite Selbstverwirklichung und Vitalität. So ist es mittlerweile gängige Praxis, dass Unternehmen Künstler zu sich einladen, damit diese neue Impulse in Sachen Kreativität, Originalität und Leidenschaft setzen.
Doch es existiert auch die andere Seite.
Ein Büroambiente wertet auf. Nicht wenige Künstler lassen sich in solch einem Raum fotografieren, anstatt in einem farbbesudelten Atelier. Statt Pinsel und Farbeimer wählen einige lieber Tacker und Büromaterial. Statt eines schmutzigen Atelierbodens lieber einen Büroschreibtisch. Verstärkt seit der Nachkriegszeit wissen einige Künstler die geordneten, repräsentativen Bürostrukturen für sich zu inszenieren, da das Büro als Schaltfläche und Organisationszentrale mit einer Aura der Macht, der Strategie, der Aktivität und des Einfluss-Nehmens verbunden ist. Tatsächlich existieren auch in der Kunstwelt essentielle Komplexe: Die Angst als Träumer, als Weltfremder, als Politik-Idiot und als Einflussloser abgetan zu werden. Auch viele jüngere und insgeheim unsichere Künstler wünschen sich, dass selbstbewusste Büroarbeiter sie zu souveränen, agilen und potenten Verhandlungspartnern reifen lassen.
So wird der Büroraum zur künstlerischen Schaltzentrale umfunktioniert.
Büro statt Atelier
Eine Reihe von erfolgreichen, etablierten Künstlern hat diese Karrierezutat längst verstanden.
Aufschlussreich ist daher, wie Gerhard Richter sich in seinem Kölner Atelier von dem Fotojournalisten Dirk Gebhardt fotografieren ließ. Und zwar so ganz untypisch für einen Maler. Der Schreibtisch und die Regale hinter ihm sehen nach klassischen Büromöbeln aus. Sie repräsentieren kein originelles Design, welches Kreativität, Leichtigkeit oder Originalität versprüht, sondern scheinen selbstgezimmert, allerdings nach einer Vorlage aus einem Büro für Versicherungen. Statt Malerbedarf steht dort ein Locher griffbereit. Ordner liegen sortiert hinter ihm. Auf einem anderen Bild sieht man die offene Schreibtischschublade. Auch ihr Inhalt weist mehr auf ein gut geführtes Büro hin, als auf ein Maleratelier. Fein sortiert liegen dort Marker, Bleistifte und Radiergummis drin. Keine Spur von dem chaotischen Künstlerchaos, welches lange als das Klischeebild einer Inneneinrichtung diente, welches ein Genie beherbergte. Gerhard Richter zeigt sich hier nicht als aktiver Maler, sondern als Künstler, der seine Arbeiten schon fertig gestellt hat und sie nun von seinem Büro aus verwaltet und vermarktet. Er verkörpert seinen eigenen Geschäftsführer, ein Organisationstalent, der die Strippen von seinem Bürotisch aus zieht.
Auch Martin Parr ließ sich in einer eher unaufgeregten Bürosituation portraitieren. Zumindest herrscht hier das gewisse, erwartete Chaos. Es handelt sich allerdings nicht um ein „Office-Büro“, sondern um ein Heimbüro. Die Korkpinnwand, die Holzregale, der Drucker und der zu klein erscheinende, überquellende Schreibtisch, der sicherlich einmal in vielen Haushalten als modern galt, könnten genau so gut bei seinen Nachbarn stehen. Spezifisch künstlerisch erscheint dieses Ambiente nicht. Parr inszeniert sich hier bürgerlich, fast schon etwas spießig und bricht ebenfalls mit dem klischeehaften Bildmotiv, des geniehaften, emotionalen Künstlers im Atelier.
Schreibtische für politische Kunst
Ein künstlerischer Bereich sticht besonders hervor, für den eine Büro- und Schreibtischsituation auch inhaltlich einen wichtigen Stellenwert erfährt: Kunst, die auf Aktion und Revolution aus ist. Auf diesem Feld erhöht sich das Büroambiente zur strategischen Schaltzentrale, von der aus die politische Arbeit im Außenraum koordiniert wird. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist Joseph Beuys.
In einem Videointerview berichtet Beuys über eine Documenta-Einladung: „Dann wurde ich 1972 wieder eingeladen. Ich sagte: Schön, dass ihr mich einladet, aber ich bringe euch kein Kunstwerk mit. Ich bringe euch die Organisation für direkte Demokratie mit.“ Was er mitbrachte, war ein Büro. Das Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung.
Beuys verstand es, sich viele Gesichter zu geben. Er trat als Schamane und Spiritueller auf, als uneitler Redner, der gerne lacht und Witze macht, aber eben auch als politisch arbeitender Weltveränderer, der seine Ernsthaftigkeit und seine Reichweite über intellektualisierte Büroarbeit steuerte. Die Idee des Büros gehörte für ihn zur sozialen Plastik hinzu. Außerdem vermochte sie Sicherheit zu spenden: In Verbindung mit seinen oft provokanten und für Außenstehende bizarren Auftritten in der Öffentlichkeit, erdet ihn das Büroambiente als überlegten, reflektierten, hart arbeitenden Geist. Beuys sorgte durch diese Bilder auch für ein Verständnis bei den Menschen, die eher nicht aus dem Kunstmilieu kommen und auf die das Kunstschaffen als alltäglicher Beruf rätselhaft wirkte. Beuys zeigte Arbeitssituationen, die ihnen bekannt vorkamen und die sie nachvollziehen konnten. Kaum ein anderer Künstler setzte die Idee des Büros so bejahend als effektives Werkzeug ein. Das Büro wurde Kunst.
Politisch arbeitende Künstler scheinen eine Affirmation zu Schreibtischen zu haben. So existiert ebenfalls von Ai Weiwei ein solches Bild, auf dem er an einem gut aufgeräumten Schreibtisch in seinem Berliner Atelier sitzt. Die elegante Büroeinheit im Gewölbe-Atelier scheint wie selbstverständlich sein zentraler Arbeitsort zu sein.
Als Christoph Schlingensief die Partei „Chance 2000“ ins Leben rief, durfte natürlich ein Schreibtisch nicht fehlen. Der Künstler schrieb über seine Aktion: „Mit den Mitteln des Theaters in den politischen Raum zu gehen und zu versuchen, eine Fläche zu schaffen, in der die Leute stattfinden können, die im System nicht stattfinden. […] Ich glaube in vielen meiner Arbeiten habe ich versucht, Prototypen und Mechanismen unserer Gesellschaft kenntlich zu machen. Parteitage, Wahlkampfspots, Plakate, Straßenwahlkampf, Talkshow-Auftritte […]“
Um all dies zu organisieren und zugleich publikumswirksam in Erscheinung zu treten, bringt der Schreibtisch genau die richtige Mischung aus Seriosität, Bürgernähe und dramaturgische Kulisse mit sich. Bei Schlingensief ist er zugleich Satire und ernst genutzter Wirkungsraum.
Das Büro als Aktionsort
Wenn das Büro als künstlerischer Arbeitsbereich bezogen wird, bedeutet dies, dass darin keine klassischen Werke wie Skulpturen oder Tafelbilder entstehen. Der Ort des Büros impliziert, dass von dort lediglich eine Kunst, bzw. eine Idee oder eine Aktion organisiert, bzw. geplant wird, die außerhalb des Büros, also Draußen in Erscheinung tritt. Meistens auf der Straße, die wiederum einen sozialen, politischen, kulturellen Kontext mit sich bringt.
Die Büromodule bringen erhebliche Vorteile gegenüber dem klassischen Atelier mit sich.
Eine davon ist die Verbindung nach Außen, zum „realen“ Leben. Ein Maleratelier steht für eine in sich abgeschlossene Welt, in der Kunstwerke nicht nur entstehen, sondern auch fertig gemalt, das heißt, abgeschlossen werden. Währenddessen bleibt der Künstler ist seiner Blase, an seinem nicht mobilen Rückzugsort, zu dem nur wenige Zugang haben. Das Atelier zelebriert den Moment des Abkapselns. Es erhöht das Sich-von-der-Welt-Trennen um in Introspektive zu arbeiten. Das Büro hingegen stellt das Gegenteil dar. Es ist eine Öffnung in die Außenwelt, es bedeutet Erreichbarkeit, Öffnungszeiten, eine Adresse zu haben und erwünschte Kommunikation. Es steht nicht nur für die Verbindung zu anderen Büros, sondern ganz generell nach Draußen. Eine Variante sind die flexiblen, temporären Aktionsbüros, die auf Tour gehen können. Gerade Aktionen brauchen keine Ateliers zum theoretischen Reflektieren, in denen schweres oder exklusives Künstlermaterial auf Jahre gehortet werden. Aktionen brauchen Telefone, Kopierer und Tacker. Man denke nur an die Flugblattaktionen der Studentenproteste. Für sie war der Kopierer eine effektive Waffe.
Vielleicht gibt es ja in der Zukunft Kunsthochschulen, die Lehraufträge an erstklassige Top-Sekretärinnen vergeben.